Wer nicht schläft, hat mehr Zeit oder: strukturelle Vorteile des RSP

Während des Räsonierens über mögliche Nachwuchsgewinnung in unserem Hobby taucht aus meiner Sicht immer wieder das Problem auf, daß die Alleinstellungsmerkmale des Abenteuerrollenspiels und seiner verwandten Bereiche nicht pointiert dargestellt, manchmal garnicht erkannt werden. Ich geh hiermit in Vorleistung, und hoffe auf rege Diskussion zum Thema.
Worin ist das Rollenspiel gut, was kann es, was andere nicht können? Bislang waren diese Fragen immer verquickt mit einer Spaßquellendebatte. Dies führt schlußendlich nicht weiter, ja, ist eher bedenklich und schädigend, wenn am Ende herauskommt, daß Thomas Römer & Co. öffentlich von sich geben, RSPs seien eigentlich garkeine Spiele. Das können sie nur denken, weil sie ihre Stimmungsspielspaßquelle als das wesentliche, den Kern des Rollenspiels begreifen. Von anderer Seite ist aber auch eine streng Skyrock’sch-Orthodoxe Auslegung des ARS als absolut und immer der Effizienz und dem Wettbewerb verpflichtet sehr angreifbar, denn Wettbewerb kann ich tatsächlich, auch mit Themen und Ikonen der Fantasy oder anderer Popsubkulturen, am Computer oder beim Kriegsspiele konsequenter erleben, da keiner der Mitspieler gleichzeitig Gegner und Bewerter ist. Man kann also nicht sagen: „Spielt RSP, da habt ihr tolle Taktik und Wettbewerb mit Fantasy-Anstrich!“
Das hilft nicht. Weder ist es verkaufsfördernd, noch, und das sollte diese reductio zeigen, trifft es den Hauptgrund, wegen dessen man spielt.

Denn: Alle Spielstildebatten, seit der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe von „The Dragon“ (R.I.P.) sind Binnendebatten, die etwas unausgesprochen lassen, ja sich dem meist nicht bewußt sind. Die Spielstile, Vorlieben, Paradigmen, Kategorien, gedrifteten Spielrunden & was da sonst seien mag, sind nur Ausprägungsunterschiede, die nach dem Eintritt in das Hobby wichtig werden. Und auch da, meist erst nach einer gewissen Zeit. Die erste Anziehungskraft ist eine andere, und zwar das Verlangen nach Abenteuer und dem außergewöhnlichen, zudem eine Affinität zu, ich sage mal: Parallelweltprodukten. Aber nur, weil ich kein besseres Wort kenne. Es gibt eben eine bestimmte Klientel, die in einem bestimmten Alter eine Neigung zu Dingen wie Fantasy & Science Fiction, Militär, Horror usw. entwickelt. Gemeinsam würde ich da eben den Parallelweltcharakter sehen, wobei ich nicht Eskapismus unbedingt als Motivation festschreiben würde. Eher die Abenteuerlichkeit: Eine Bombe entschärfen, Kung Fu, Panzerhaubitzen, leidende Vampire, tapfere Halbinge etc. pp werden für einige zur Projektionsfläche für das, was auch immer sie projizieren wollen. Alles, was irgendwie mit diesen PW-Medien zu tun hat, wird von dieser Klientel geschätzt und eifrig aufgesogen, wobei sich schnell Vorlieben und Abneigungen ausbilden. Und so dürften sehr viele über die Neigung zu PW-Medien. zum Rollenspiel gekommen sein. Auch die Kriegsspieler des Mittelwestens in den sechziger jahren waren, wie auch die Diplomacy- und Informatik-Szene der Sechziger und nachfolgender Jahre stark von eben den frühen PW-Medien der Massenkultur des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. Und sie erschufen auf der doppelten grundlage PW-Medieninteresse und Kriegs- und Planspiel das Hobby.

Wirkliche Erfolge und Umwälzungen, positiv wie negativ, waren fast immer an PW-Medienrezeption gekoppelt. Vampire sei das prominenteste Beispiel, aber auch Twilight:2000 (in den USA überaus erfolgreich) oder Traveller hatten Erfolg, weil sie eine Klientel popkulturell ansprachen, und dann brauchbar genug waren.

Wozu brauchbar?
Brauchbar für die Teilnahme am sonst nur passiv erlebten Abenteuer. So ist also die Hauptmotivation neuer Spieler, an fiktiven Abenteuern aktiv teilhaben zu dürfen. Und egal was der Spielleiter dann treibt, egal welcher Spielstil erlernt wird, dieser aktive Teil ist selbst in den schlechtesten Runden irgendwie vorhanden, und wenn auch nur als Illusion. Erst im Verlauf bilden sich dann Vorlieben und findet Sozialisation in Spielstile statt, oder unterbleiben.

An einem fiktiven Abenteuer kann man aber mit mehreren anderen Medien auch teilhaben.
z.B.

  • Themen-Brettspiele (hier sei der BGG-Wortsinn gemeint: Carcassonne: schwaches Thema HeroQuest: starkes Thema)
  • Themen-Computerspiele (was derzeit fast alle sind, aber das ändert sich aufgrund des Drucks der Firmen, neue Kundenkreise zu erschließen ob der Marksättigung)
  • Abenteuerbücher
  • LARP

Wir haben also bei gleicher Grundmotivation mindestens fünf Möglichkeiten diese zu befriedigen. Der Intensivkonsum und Teilnahme an der Fanficszene sei noch als weiter Möglichkeit erwähnt, viele, sehr viele bleiben in ihrem Interesse ja vollständig passiv und sind Intensivpassivkonsumenten von PW-Medien.

Welche besonderen Merkmale hat also das herkömmliche Rollenspiel, die die anderen nicht haben? Ich nenne nun diejenigen, die mir wichtig erscheinen, kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Es ist zu scheiden zwischen materiell-ideeller Infrastruktur und dem eigentlichen Spielerlebnis.

materiell-ideelle Infrastruktur:

Als Grundvorraussetzung benötige ich Lerntexte, die mir die Methode in ihrer spezifischen Ausprägung näherbringt. Ich brauche also Zugang zu Texten, und muß diese Lesen und Verstehen, und in der Lage sein, das Verstandene weiterzugeben. Weiterhin benötige ich Verbrauchstexte, also das eigentliche Abenteuer.
Diese Verbrauchstexte kann ich aber mithilfe bestimmter Prozeduren aus den Lerntexten selber erzeugen. Strukturell benötigt das Hobby also Textproduzenten und geeignete Rezipienten, die selbst die Verbrauchstexte = Abenteuer erzeugen, zumindest aber zur Verfügung gestellte Verbrauchstexte auch benutzen kann. Materiell ist also eine sehr große Unabhängigkeit festzustellen, sobald man im Besitz der Texte ist. Das ist Vorteil und Fluch zugleich, wie sich jeder selber denken kann und bestimmt auch schon gedacht hat. Die überwältigende Spielerschaft nutzt fremde Regeln, Systeme etc., das heißt für fast alle ist eine kommerzielle und möglichst professonelle Lerntexterzeugung notwendig und wünschenswert. Das Hobby benötigt also Schreibwerkstätten, die vom Textproduzieren leben können. Wie der Text materiell dann verbreitet wird, ist wichtig, soll aber hier unbetrachtet bleiben.
Warum benötigt RSP so wenig?
Wegen der Methode Rollenspiel, also der mündlichen Verhandlung des weiteren Verlaufs fiktiver Situationen. Diese ist unglaublich mächtig. Sobald sie begriffen wurde, erlaubt sie es:

Abenteuer zu erschaffen
Parallelwelten glaubhaft & lebendig darzustellen
unbegrenzt Spezialeffekte einzusetzen
größtmögliche Freiheit für die Spielenden

Alle anderen AbenteuerMedien benötigen eine riesige Industrie, insbesondere Computerspiele. Und die Freiheit ist immer eingeschränkt, man darf nur die Abenteuer erleben, die ins Produkt eingefügt wurden, schlimmer noch, man hat nur die Handlungsoptionen die Programmiert wurden. Trotz der gigantischen Fortschritte der Technik, ist das erzeugen eigener Abenteuer im RSp immer noch hundertemale weniger Komplex, als bei Computerspielen. Von der Idee zur Ausführung ist der Weg um zehnerpotenzen kürzer. Da also der Spielleiter unendlich viel flexibler sein kann, können die Spieler viel natürlicher mit der P-Welt umgehen, und haben viel mehr Freiheiten. So können sie Dinge probieren, an die nie ein Programmirer denkt, oder mit Personen interagieren, wie es bislang im Computerspiel nicht möglich ist. Aber selbst wenn die Technik weiter fortschreitet, so ist die programmierte Scheinfreiheit doch nur von einer Heerschar Millionenteurer Programmierer aufrechtzuerhalten, solange es keine echte KI gibt.
Der einzelne spielleitende Mensch ist was Abenteuer angeht flexibler schneller und unglaublich viel billiger als es Computerspiele in den nächsten fünfzig Jahren sein werden (es sei denn KI fällt vom Himmel, aber dann haben wir andere Sorgen). Vor allem kann es jeder der es versteht mit relativ kleinem Lernaufwand. Natürlich lernt er immer mehr dazu, aber er kann sofort loslegen. Selbst mal ein Spiel oder nur eine Mission zu schreiben ist eine viel größere Hürde. Ebenso ist das Angewiesen-sein auf große kapitalmengen der Tod der Kreativität. Der einzelne spielleitende Mensch ist also unabhängig und frei, und dieser Vorteil wird ihm immer erhalten bleiben.

Das Spielerlebnis:

Die meisten Diskussionen drehen sich um Unterschiede im Spielerlebnis, da werden Chipsfresser, 15 min Spaß pro Stunde, schlechte Spielleiter gegen phantastische Graphik oder unsichtbare Regelabwicklung aufgerechnet. Soll uns hier nicht mehr interessieren, das Spielerlebnis ist eben so strukturiert, wie es strukturiert ist, und jeder muß wissen, wann und wo er dem Medium RSP den Zuschlag ob seiner Vorteile gegenüber seinen nachteilen gibt.
Es sei aber erwähnt, daß es für Spiele Spaßquellen gibt. Und die meisten Spiele bedienen nur eine. Abenteuerrollenspiele können aber alle oder zumindest mehrere gleichzeitig bedienen, meines Erachtens der größte Vorteil des ARS.

Beispiel Spaßquellenlehre, zur Abwechslung mal von einem Wissenschaftler einer passenden Provinienz:

„žAgon“ = Wettkampf; Fußball, Schach
„žAlea“ = Zufall; Roulette, Lotterie
„žMimikry“ = Identitätsspiele; Vater-Mutter-Kind, Theater
„žIlinx“ = rauschhafte Betätigung; Schaukeln, Achterbahn

Dazu muß nicht viel gesagt werden, jeder kann sehen, was er in seinen Runden vereinigt. Wichtig ist noch, daß meiner Überzeugung nach, jede einzelne Quelle von Spezialmedien besser bedient werden kann. Also Kriegsspiel liefert mir besser und mehr „Agon“ als RSP. Aber die Kombination ist, in ihrer Ausprägung beim RSP oder dem verwandten LARP, welches mehr im Schnitt „Ilinx“ und „Mimikry“ aber weniger „Alea“ und „Agon“ besitzen dürfte, Alleinstellungsmerkmal des Hobbys.

liberté, holisme , indépendence

Das sei der Schlachtruf aller PESA-Recken. Und gleichzeitig die größten Vorteile des Hobbys gegenüber anderen Medien.

Zum O.R.K.

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