Ich lag falsch, mit fast Allem. Die Erklärung, Teil 1.

Kein Ausländer, und doch ein Fremder
Advanced Chemistry

Jahrelang habe ich gewettert und gekämpft gegen die Irrungen und Wirrungen, all die falschen Wege, die die deutsche Hobbyrollenspielszene immer wieder einschlägt. Und es sieht auch nicht sonderlich gut aus, wenngleich auch einige Mauern eingerissen wurden. Am Ende stößt man immer wieder auf die Erkenntnis: die Deutschen wollen es wohl so, und die Mehrheit der Verbliebenen ist zufrieden. In der Folge habe ich viel geforscht und gelesen, um zu ergründen, was des deutschen Pudels Kern, warum tickt die Mehrheit so, daß so viel langweilige, wacke Scheiße immer wieder nach oben geschwemmt wird. Warum auch die Debattenkultur so äußerst merkwürdig ist, warum mit echtem Diskurs nur ganz verschwurbelt umgegangen wird und warum so viele so oft über Belanglosigkeiten die Nase rümpfen, wo man einfach mal entspannter sein könnte. Und warum die meisten so einen vorhersehbaren, schlechten Geschmack haben.

Viele Antworten habe ich gefunden und Euch auch oft vorgetragen und mitgeteilt. Hauptursachen sind die deutsche Hysterie (s. Istvan Bibo) und vor allem der deutsche Hang zur kleinkarierten Romantik in allen Lebenslagen. Oben drauf noch ein strukturell anitaufklärerisches Bürgertum, und das Elend im Wohlstand ist perfekt. Diese Erkenntnisse führten mich weit aus dem Gesichtskreis des Hobbys hinaus und entblößten dieselben noch viel schlimmer wirkenden Umstände in allen deutschen Kulturbereichen. Welch ein Elend!

Doch genau an diesem Punkt dämmerte es mir vor einiger Zeit: Ich lag falsch, ich habe immer die falschen Fragen gestellt! Nicht: warum ist die Mehrheit der Deutschen so merkwürdig ist doch die interessante Frage. Denn das haben schon viele ventiliert, Kulturkämpfe werden darüber geführt, und die Frontlinien verlaufen eben da wo sie verlaufen. Ungewöhnlich ist also nicht, wie die Deutschen sind, ungewöhnlich ist, daß ich NICHT so bin. Und meine Freunde und Jugendkumpels, mit denen ich gespielt habe! Und daß ich das erst spät erkannt habe, daß ich eigentlich das nicht passende Element bin, liegt u.a. an der Art, wie ich und wo ich aufgewachsen bin. Denn dadurch habe ich ein Normalitätsgefühl entwickelt, was mir überhaupt und ganz und gar nicht zusteht. Will sagen: Vieles von meinem Zorn der frühen Jahre dieses Blogs und vieles der Ungeduld und Verachtung, welche ich in den letzten Jahren kundgetan habe gingen von mir als Durchschnittsperson aus: „Wenn ich das erkenne, dann müssen doch auch alle anderen das erkennen!“. Ein klassischer Bezugssystemfehler. Durch mein Leben in Westdeutschland in mehreren Bundesländern, sowie vielerlei Erfahrungen in Ostdeutschland wurde mir klar: meine Perspektive, meine Einstellungen, meine Werte bedeuten in 99% Deutschlands rein gar nichts. Meine Schule, meine Nachbarschaft, meine Kultur teilte Gesetze und Sprache mit dem Rest Deutschlands, mehr aber auch nicht. Dies ist in Ostdeutschland meist gemildert, weil Ostdeutsche schon einen Systemwechsel hinter sich haben, also insgesamt offenere Persönlichkeiten sind. Aber der ewige Westen marschiert in einem für jemanden der in den Blocks von West-Berlin aufgewachsen ist, gespenstischem Gleichschritt aus Langeweile und Konformismus, daß es mir bis auf den heutigen Tag die Sprache verschlägt. Ebenso unfaßbar ist der fest verwurzelte Antiamerikanismus, der so in West-Berlin kaum jemandem, mir persönlich aber ganz bestimmt nie, vorstellbar gewesen wäre. Unsere Freiheit, ja tatsächlich unsere Nahrung wurde direkt von den Alliierten und allen voran den Amerikanern sichergestellt. Es waren unsere Freunde, und man blickte mit Bewunderung und Dankbarkeit auf die Stifter und Garanten unserer Freiheit. Nur zugereiste Schwaben-Punks in Kreuzberg sahen das anders. Aber die waren eben aus der Westdeutschen Provinz. Überhaupt, die Provinz: Das heftigste, was auch immer noch spürbar ist and der westdeutschen Provinz ist die tiefe der Piefigkeit. Wie oft haben wir uns in den späten 90ern schon über die PrenzBerg-Immigranten aufgeregt, was die denn ihre Provinzregeln nach Berlin importieren wollten. Auch Kategoriefehler! Die, die nach Berlin auswanderten und auswandern, sind schon die Flüchtlinge vor dem geistigem Gleichschritt von Norddeich-Mole bis Backnang. Und aus in Berlin aufgewachsener Sicht ist das eine unglaubliche Fallhöhe: Wo man sich als Berliner als Einwohner eines recht gemütlichen Städtchens mit akzeptablen Öffnungszeiten und passablen kulturellem Angebot sah, so waren diese weltweit gesehen (außer was klassische Musik und ein paar Museen angeht, da war Berlin vorne dabei) leidlichen Angebote und Leistungen für jemandem aus einem -gäu oder einer -alb geradezu revolutionäre Zustände. Nun als umgekehrter Migrant in die Westprovinz kann ich Tag für Tag nun das wahre Ausmaß der Langeweile erahnen: Wer Heavy Metal hört, ist schon Rebell und voll Anders ™. Das hätte bei uns aufm Hof nur ein müdes Lächeln hervorgerufen. Und dies gilt für mich eben schon besonders für den Hobbybereich: Während meiner Jugend gabe es in Berlin zwei KoSim Läden und knapp 10 Rollenspielläden, plus hie und da Miniaturenangebote. Ist natürlich zusammengeschrumpft, aber damals war das so. Es gab einen eignen verfickten Laden für BattleTech (Camelot, schnüff!). Ebenfalls gab es etwas nicht, was im Westen immer noch an der Tagesordnung ist: den kulturellen Gleichschritt. Will sagen, egal aus welcher Schicht Deine Eltern waren, egal wo Du wohntest, wenn Du spannende Spiele magst, dann spielst Du die einfach. Hier im Westen kommt es mir vor, als würden Hobbyspiele vor allem von Außenseitern gespielt werden: Aspergerinos, Verpeiler, Hänger, Halbwaisen, Scheidungskinder usw. usf. Also nur denjenigen, die aus der Westlermühle aus Schule, Sportverein, Musikunterricht und Freiwilliger Feuerwehr irgendwie entkommen oder durchs Raster gefallen sind. Dieser ganze durchreglementierte Freizeitkram, den es in den Hochhäusern aber auch in den Villenvierteln so nicht gab. Man war nicht automatisch im Fußballverein oder beim Ballett, wie das im Westen ist. In Vereine ist man nur gegangen, wenn man ein tiefes Bedürfnis oder sehr strenge (Westler-)Eltern hatte. Das heißt wiederum, daß es in den Vereinen, z.B. beim Fußball ein hohe Selbstselektion gab, nur die krassesten Fußballprolls waren im Verein, weswegen viele nicht hingingen oder dann irgendwann wegblieben und zugezogene Westlerbonzen ihre Sprösslinge lieber woanders unterbrachten als einfach beim lokalen Fußballverein. Das mag man alles komisch finden oder bedauern, klar ist aber daß im Umkehrschluß unsere Jugend viel stärker selbstbestimmt und frei von Dünkel & Konformismus war. Selbst die Bonzenkinder konnten einfach irgendein abseitiges Hobby haben, ohne irgendwie sich rechtfertigen zu müssen. Sieg des Individuums durch Anonymität. Daß dies ganz handfeste kulturelle Unterschiede zeitigt, kann man am besten am beispiel HipHop und vor allem Deutschrap sehen. Nicht so sehr für Bonzenkinder und vor allem für Blockbewohner im Straßenrap natürlich: Aber was in den späten 90ern aus dem Westen nach Berlin schwappte, stieß auf entschiedenste Ablehnung, nicht nur aus Realness-Gedanken, sondern weil es auf ganz profunde Weise als wack und luschig und verlogen und scheiße empfunden wurde. Und vor allem als prätentiös in dem Sinne, daß sich da irgendwelche Gymnasiasten für total crazy hielten, wobei sie von der als Normalität empfundenen Individualität und Krassheit des Berliner Blockbewohners Jahrzehnte entfernt waren. Und sind. Deswegen konnte Royal Bunker und Aggro Berlin einfach mal Anfang dieses Jahrtausends die komplette Industrie umwälzen und neue Genres prägen. Natürlich gebührt auch anderen krassen Leuten und Außenseitern wie Torch und Advanced Chemistry große Ehre, aber ein bißchen Westlerswag haben die halt immer. Werner Fuchs ist sozusagen der Torch des Rollenspielhobbys.

Gut, zurück zu mir, ich bin ja damals kein HipHopper gewesen, sondern eben Zockernerd. Aber eben auch da hat man in jungen Jahren so viel gespielt gesehen, mit soviel coolen und schlauen Leuten abgehangen, soviel ausprobiert und verworfen, daß das ganze Gefasel von Wessinerds nur schwer zu ertragen oder ernstzunehmen war und ist. Vor allem wenn sie DSA, Shadowrun und Cthulhu gespielt haben und sonst mehr oder weniger nichts. Die haben einfach komische Vorstellungen und denken wir sind alle Brüder, weil wir DSA kennen, aber in Westberlin haben wir immer auf DSA geschissen und herabgeblickt, das war einfach mal Standard, da hat man nicht drüber nachgedacht. Wer interessiert war, der konnte auch eine Spielebiographie hinlegen, die einen bis an die Wurzel und die Avantgarde des Hobbys brachte. Und so ist es mirt passiert, so habe ich gelebt: Von Klein-Arma, Myra: Welt der Waben, SPI-Games, Avalon Hill, World in Flames, Empires in Arms, Warhammer Fantasy bis zu allen denkbaren Rollenspielen, alles auf Englisch zumindest, hatte ich schon vor dem 16. Geburtstag schon gemacht und Leute gekannt die jeweils tief in den Sachen drinne waren. Alles rollenspielerische wurde auf den Conventions ausprobiert, in den Heimkampagnen dann aber keine Experimente, wobei wir da  auch unglaublich viel gespielt haben, wir hatten ja Zeit, wir mußten zu keinem Verein. Und mit Bussen kam man überall ohne Eltern hin. In den Zockernerdvereinen ging es dann nochmal krasser ab, da lernte man die richtig tief drinsteckenden leute kennen, wie den Master-Blaster, der einfach mal geschmeidig ALLE veröffentlichten Rollenspiele hatte, die Ladnenbesitzer, die Larpfetischisten, später die Trading Card-Größen…undundund. Magic spielen habe ich bei einem der berühmtesten dt. Magicjournalisten mal so nebenbei gelernt, als wir den Bus verpaßt hatten. Natürlich waren wir nie aller einer Meinung und die Geschmäcker waren unglaublich verschieden. Aber eben, aus dem Vergleich mit Restdetuschland wird das so deutlich offenbar, Streits und Uneinigkeit auf unglaublich höherem Level. Höheres Level, weil die Leute das in Westberlin halt dann durchgezogen haben, die haben da nicht rumgssülzt und gesammelt sonder wußten dann alles und haben zweimal die Woche gespielt. Bei aller Feindschaft (Gruß an Georgios) treffen diese Aussagen zum hohen Niveau auch auf die paar anderen Berliner, die sich online umtun zu. Wir haben uns in den 90ern um cinematische Systeme gezofft, aber eben jeder mit hunderten von Stunden an Praxis im Rücken, HKAT2 hin oder her. Ein „Ding“ das es gab, war es, innerhalb der Szene als jmd. zu gelten der ein „eigenes“ System hatte. Nicht also etwas Selbstgeschriebenes (hier liegt wohl weiterhin auch die größte Schwäche der Berliner Szene, die paar Versuche wie Liquid, Thyria und Endland sind halt was sie sind). Sondern eine erreichbare Ehrung war es DER Spielleiter für ein bestimmtes System zu sein. Und das waren die Leute dann auch (übrigens ein Grund für den mangelnden Erfolg von Liquid oder Thyria: DIE Spielleiter waren ja erreichbar, wenn man das haben wollte, dann war man einfach Spieler bei denen. Hätte man eh nie besser gekonnt). Und das Gefühl war dann, daß Online doch dann es Heerscharen von Leuten davon geben müßte. Aber was ich damals nicht wußte: Ich lebte nicht in einer kleinen Community von Nerds, die isoliert war und im Westen (und in der Folge Online) viel Größere Äquivalente hatte. Nein, die Realität war, die schon durch das Projekt Odyssee mir anfing zu dämmern: Restdeutschland war größer, vernetzter und gleichgeschalteter. Mehr Lemminge, mehr DSA-Spieler, Fußball- und Tatortgucker.
Blind Guardian Fans. Hoo-fucking-ray.

Wenn Dir in Berlin jmd. vorgestellt wurde als „Das ist Thomas und Paranoia ist SEIN System!“, dann wußtest Du was Du zu tun hattest: Spiel bei ihm Paranoia und Du wirst danach Paranoia kennen und viel Spaß gehabt haben. Was hat man zu tun, wenn einem im Westen jmd. vorgestellt wird als „Thomas und FOLONIA ist sein System“? Rennen!

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